Jeder Mensch nimmt die Welt auf seine eigene, einzigartige Weise wahr. Manche Menschen erleben ihre Umgebung jedoch so anders, dass sie lange Zeit als „abweichend“ oder „auffällig“ galten. Inzwischen beginnen Betroffene, Forschende und Therapeuten und Therapeutinnen, diese Unterschiede nicht nur als Herausforderungen oder Probleme, sondern auch als besondere Facetten menschlicher Vielfalt zu verstehen. Eine dieser Facetten ist Autismus, ein Thema, das in den letzten Jahrzehnten nicht nur wissenschaftlich, sondern auch gesellschaftlich immer mehr an Bedeutung gewonnen hat.
Was ist Autismus?
Nach der internationalen Klassifikation ICD-10 wird Autismus als eine „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ beschrieben, die sich vor allem in drei Bereichen zeigt:
- Soziale Interaktion: Betroffene haben oft Schwierigkeiten, soziale Signale zu deuten, Blickkontakt zu halten oder Beziehungen aufzubauen – nicht, weil sie kein Interesse an anderen Menschen hätten, sondern weil sie soziale Regeln und nonverbale Kommunikation anders wahrnehmen und verstehen.
- Kommunikation: Manche autistischen Menschen sprechen später oder anders als ihre Altersgenossen, andere entwickeln eine sehr präzise, aber mitunter wortwörtlich gemeinte Sprache. Manche kommunizieren auch nonverbal, etwa durch Gebärden oder technische Hilfsmittel.
- Wiederholte Verhaltensmuster und Interessen: Routinen, feste Abläufe oder intensive Interessen an bestimmten Themen geben vielen autistischen Menschen Sicherheit und Struktur. Veränderungen können als überfordernd erlebt werden.
Wichtig zu wissen: Autismus ist kein einheitliches Bild, sondern ein Spektrum – die Ausprägungen sind so vielfältig wie die Menschen selbst.
Von der „Störung“ zur Neurodiversität: Ein neuer Blick auf Autismus
Lange Zeit wurde Autismus vor allem als „Störung“ oder „Defizit“ betrachtet. Doch in den letzten Jahren hat sich in Forschung und Gesellschaft ein differenzierteres Bild herauskristallisiert: Autismus ist nicht einfach nur eine Abweichung von der Norm, sondern eine andere Art, die Welt zu erleben. Heute spricht man zunehmend vom Konzept der Neurodivergenz bzw. Neurodiversität.
Was bedeutet Neurodiversität?
Neurodiversität beschreibt die Idee, dass die menschliche Neurologie, die in Erleben, Wahrnehmung und Verhalten jeder Person ihren Ausdruck findet, von Natur aus vielfältig ist. Manche Menschen denken, fühlen oder handeln in bestimmten Bereichen sehr ähnlich wie der Großteil der Bevölkerung („neurotypisch“), andere unterscheiden sich stärker vom Durchschnitt und werden als „neurodivergent“ bezeichnet. Entsprechende Besonderheiten umfassen beispielsweise die Verhaltens- und Erlebensspektren autistischer Menschen, Personen mit ADHS, Tourette-Syndrom und Ticstörungen. Neurodiversität betont: Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“ – nur unterschiedlich. Manche dieser Unterschiede bringen Herausforderungen mit sich, andere aber auch besondere Stärken.
Stärken neurodivergenter Menschen – am Beispiel von Autismus
Autistische Menschen erleben die Welt oft intensiver und detailreicher. Das kann zu Überforderung führen, aber auch zu außergewöhnlichen Fähigkeiten:
Detailgenauigkeit und Fachwissen: Viele autistische Menschen entwickeln ein tiefes, fast enzyklopädisches Wissen in ihren Interessensgebieten.
Logisches Denken und Mustererkennung: Sie erkennen oft Zusammenhänge, die anderen verborgen bleiben – eine Stärke, die in Wissenschaft, Technik oder Kunst wertvoll ist.
Ehrlichkeit und Direktheit: Autistische Menschen kommunizieren häufig ohne „soziale Filter“, was zu klaren, unvoreingenommenen Perspektiven führt.
Kreativität und Innovation: Weil sie soziale Normen nicht automatisch übernehmen, entwickeln sie oft innovative Lösungen.
Natürlich sind diese Stärken nicht bei allen autistischen Menschen gleich ausgeprägt. Herausforderungen wie hohe sensorische Sensitivität oder soziale Hürden sind ebenfalls vorhanden und bleiben im Alltag oft schwierig. Doch der Blick auf die Ressourcen statt nur auf die Defizite verändert die Perspektive: Neurodivergenz ist nicht nur eine „Störung“, sondern auch eine Bereicherung für die Gesellschaft.
Weibliche und männliche Ausprägungen: Warum Autismus oft anders aussieht
Lange Zeit galt Autismus als „männliches Phänomen“. Heute weiß man: Autistische Mädchen und Frauen werden oft später oder seltener diagnostiziert, weil ihre Merkmale anders aussehen können. Während Jungen etwa durch auffälliges Verhalten oder intensive Sonderinteressen (z. B. Interesse für technische Spezifikationen oder Zugfahrpläne) auffallen, passen sich Mädchen häufiger an, imitieren soziale Interaktionen („Masking“) oder entwickeln Interessen, die weniger „klischeehaft“ wirken (z. B. für Tiere und Literatur). Das führt dazu, dass viele Frauen erst im Erwachsenenalter eine Diagnose erhalten (wenn überhaupt).
Fazit: Autismus verstehen – Vielfalt wertschätzen
Autismus, wie es hier verstanden wird, ist in erster Linie eine andere Art, die Welt zu sehen. Alltag und Forschung zeigen: Neurodivergenz ist ein natürlicher Teil menschlicher Vielfalt. Es sollte darum gehen, gegenseitig aufeinander zu achten, Barierren im Alltag, der Schule und im Beruf abzubauen und die besondere Persönlichkeit neurodivergenter Menschen wertzuschätzen. Es sind diejenigen, die Struktur in den Alltag bringen, Details bemerken, an denen man sonst vorübergehen würden, die sehr grundlegend und ohne bösen Willen ehrlich sind oder außerhalb sozialer Konventionen Probleme zu lösen versuchen.