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Autismus bei Mädchen und Frauen – ein unterschätztes Phänomen

Stellen Sie sich ein Mädchen vor, das ordentlich in ihrer Schulklasse sitzt, ihre Hefte sorgfältig führt und konstant gute Noten schreibt. Die Lehrerin beschreibt sie als „schüchtern, aber fleißig“ – ein unauffälliges Kind, das nie stört. Vielleicht wirkt es manchmal etwas isoliert oder sensibler als andere Kinder. Doch hinter dieser angepassten Fassade verbirgt sich möglicherweise ein Kind, das täglich enorme Anstrengungen unternimmt, um zu funktionieren. Gerade weil es so perfekt in das Bild des „braven Mädchens“ passt, bleibt sein Autismus unentdeckt.

Das Verhältnis von Autismus-Diagnosen wird häufig mit 4:1 zwischen Jungen und Mädchen angegeben. Diese Statistik bildet jedoch möglicherweise nur einen Teil der Wahrheit ab, da sie durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst wird, darunter diagnostische Kriterien, die traditionell auf männliche Ausdrucksformen von Autismus ausgerichtet sind. Es gibt Hinweise darauf, dass bei Frauen ein höheres Risiko besteht, dass eine Autismus-Spektrum-Störung nicht oder erst sehr spät diagnostiziert wird. Dieses diagnostische Ungleichgewicht ist nicht nur ein statistisches Problem, sondern könnte auch ein ganzes Spektrum weiblicher Erfahrungen mit Autismus verdecken, das lange Zeit im Schatten der männlich geprägten Forschung stand.

Genetische Forschung

Genetische Studien zeigen, dass Mädchen und Frauen mit diagnostizierten Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) eine höhere Anzahl genetischer Veränderungen aufweisen als Jungen und Männer (Zhang et al., 2020; Gilman et al., 2011). Dies deutet darauf hin, dass Mädchen und Frauen trotz ähnlicher genetischer Ausprägung die Diagnosekriterien seltener erfüllen. In der Literatur werden verschiedene Gründe und Modelle für dieses Phänomen diskutiert (siehe Lai et al., 2015).
Eine Möglichkeit ist, dass Mädchen und Frauen, die genetisch ins Autismus-Spektrum passen würden, tatsächlich keine autistischen Merkmale im Erleben und Verhalten zeigen. Erklärungsansätze hierfür postulieren einen protektiven Effekt auf Genexpressionsebene oder hormoneller Ebene, der sie weniger anfällig für klinische Ausprägungen autistischer Merkmale macht. So könnten genetische Faktoren auf dem X-Chromosom eine Rolle spielen oder die niedrigeren Androgenwerte bei Frauen einen schützenden Effekt haben.

Der „weibliche Phänotyp“

Eine weitere Möglichkeit ist, dass Mädchen und Frauen grundsätzlich ein anderes autistisches Erscheinungsbild haben als Männer, sodass sie diagnostisch unter dem klinischen Radar bleiben. Diese Hypothese soll im Folgenden näher erläutert werden.
Historisch gesehen beruht die Erforschung der Autismus-Spektrum-Störung, insbesondere des frühkindlichen Autismus, vorrangig auf Studien mit verhaltensauffälligen Jungen. Dies hat zur Folge, dass die diagnostischen Kriterien oft auf männliche Ausdrucksformen von Autismus ausgerichtet sind. In der neueren Forschungsliteratur wird verstärkt auch die feminine Seite des Autismus in den Fokus gerückt. Studien zeigen, dass Mädchen und Frauen mit Autismus oft andere Symptome zeigen als Jungen und Männer. Beispielsweise neigen sie dazu, ihre sozialen Schwierigkeiten besser zu kompensieren oder zu „tarnen“ (siehe z.B. Hull et al., 2017; Ormond et al., 2018). Diese Anpassungsfähigkeit kann dazu führen, dass ihre autistischen Züge weniger sichtbar sind und sie seltener als Jungen auffälliges Verhalten zeigen. Stattdessen ziehen sie sich oft zurück und wirken schüchtern, was ihre sozialen Schwierigkeiten verschleiert. Um sich anzupassen, dazuzugehören und ihren sozialen Bedürfnissen und Zielen gerecht zu werden, bemühen sich autistische Mädchen mehr als Jungen um Augenkontakt, führen Smalltalk und unterdrücken repetitive Verhaltensweisen, um sich möglichst „neurotypisch“ zu verhalten. Leider bringt diese Anpassung nicht nur Vorteile mit sich, wie etwa soziale Akzeptanz. Oftmals führt sie auch zu schwerwiegenden negativen Folgen wie chronischer Erschöpfung, einem Gefühl des Identitätsverlusts und psychischen Belastungen (Hull et al., 2017).
Hinsichtlich zusätzlicher psychischer Belastungen hat die Forschung gezeigt, dass Mädchen mit Autismus häufiger internalisierende Verhaltensauffälligkeiten wie Angststörungen, Depressionen und Essstörungen entwickeln (Kirkovski, 2013; auch Kõlves et al., 2021). Diese sind weniger offensichtlich, da sie innerlich verarbeitet werden und sich durch Selbstzweifel und emotionale Probleme äußern. Im Gegensatz dazu zeigen Jungen mit Autismus häufiger externalisierende Verhaltensauffälligkeiten wie ADHS oder aggressives Verhalten, die von außen sichtbar sind. Die folgende Tabelle verdeutlicht die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen hinsichtlich der aktuellen diagnostischen Kriterien und Komorbiditäten:

Unterschiedliche Entwicklungsverläufe

Es gibt zudem Hinweise darauf, dass sich die Entwicklungsverläufe autistischer Merkmale bei Mädchen und Jungen deutlich unterscheiden, was über die bereits beschriebenen Kompensationsstrategien hinausgeht. Während bei Jungen autistische Züge häufig bereits in der frühen Kindheit erkennbar sind, folgen Mädchen oft einem anderen Entwicklungspfad, der ihre Diagnose zusätzlich erschwert.
Ein bedeutsames Konzept in diesem Zusammenhang ist die „Adolescent emergence hypothesis“ (Mandy et al., 2018). Diese Hypothese besagt, dass autistische Merkmale bei Frauen im Vergleich zu Männern eher später in der Entwicklung – nämlich in der Adoleszenz statt bereits in der Kindheit – sichtbar werden. Diese Annahme stützt sich auf Berichte autistischer Frauen, wonach ihre sozialen und kommunikativen Schwierigkeiten erst in der Jugendzeit offen zutage traten, als ihre soziale Umwelt zunehmend komplexer wurde (Bargiela et al., 2016). Diese Befunde werden durch Forschung gestützt, die zeigt, dass etwa 30% der Individuen mit Autismus während der Adoleszenz einen deutlichen Rückgang der adaptiven Funktionsfähigkeit erleben (Picci & Scherf, 2015).

Die entwicklungsbedingten Unterschiede lassen sich durch mehrere Faktoren erklären. In der Kindheit sind soziale Strukturen oft weniger komplex und stärker durch Erwachsene moderiert. Viele Mädchen mit Autismus können in diesem geschützteren Umfeld erfolgreich funktionieren, ohne dass ihre besonderen Bedürfnisse auffallen. Ihre oft ausgeprägten Fähigkeiten zur sozialen Imitation ermöglichen es ihnen, angemessenes Verhalten zu kopieren und soziale Situationen zu meistern. Mit dem Übergang in die Adoleszenz verändert sich diese Dynamik fundamental. Die sozialen Erwartungen werden komplexer, weniger strukturiert und stärker von Peer-Gruppen bestimmt. Subtile soziale Nuancen, nonverbale Kommunikation und die Navigation in Gruppendynamiken gewinnen an Bedeutung – Bereiche, in denen autistische Mädchen trotz ihrer Kompensationsstrategien oft an ihre Grenzen stoßen. Was in der Kindheit als „Schüchternheit“ interpretiert wurde, wird nun zu einem deutlichen Hindernis in der sozialen Entwicklung.

Parallel dazu verstärken sich in der Pubertät oft die internalisierenden Symptome. Während kompensierte autistische Mädchen in der Kindheit noch erfolgreich „funktionieren“ konnten, führt die ständige Anstrengung des Maskierens in der Adoleszenz häufig zu Erschöpfung, Angststörungen und depressiven Episoden (Baldwin & Costley, 2016). Diese sekundären psychischen Belastungen werden dann oft primär behandelt, während die zugrundeliegende autistische Symptomatik unerkannt bleibt.

Fazit

Zusammenfassend zeigt sich, dass Autismus bei Mädchen und Frauen oft übersehen und falsch verstanden wird. Das diagnostische Ungleichgewicht, genetische Faktoren und das „Tarnen“ tragen dazu bei, dass viele Mädchen und Frauen erst spät oder gar nicht diagnostiziert werden. Dies kann zu schwerwiegenden Konsequenzen für ihre psychische Gesundheit und ihr Wohlbefinden führen. Aus diesem Grund ist es wichtig, das Bewusstsein für die Besonderheiten autistischer Mädchen und Frauen zu erhöhen. Obwohl es bereits vermehrt Forschung in diesem Bereich gibt, sind die Erkenntnisse noch nicht ausreichend in den therapeutischen und ärztlichen Praxen und Schulen verankert. Ein bedeutender Schritt in diese Richtung ist die Sensibilisierung von Eltern, Lehrern, Ärzten und der Gesellschaft im Allgemeinen. Durch Aufklärung und Unterstützung kann dazu beigetragen werden, dass autistische Mädchen und Frauen die notwendige Hilfe und Unterstützung erhalten.
Letztlich sollte das Ziel sein, eine inklusivere und verständnisvollere Gesellschaft zu fördern, in der jeder Mensch, unabhängig von Geschlecht oder neurologischer Veranlagung, die Möglichkeit hat, sein volles Potenzial zu entfalten.

Bildrechte: Nesmie (nesmie.tumblr.com).